Heilt Vitamin D die Fibromyalgie?
„Nein - aber ….“ könnte man das Fazit eines Youtube-Videos zusammenfassen, das ein gutes Beispiel gibt, wie man trickreich Fakten und Mutmaßungen mischt, um eine Werbebotschaft zu platzieren.
Als „Fibro-Coach“ stellt sich eine sehr fleißige Video-Bloggerin vor. Sie hat seit 2012 mehr als 260 Videos hochgeladen und erreicht damit 1.800 Abonnenten. Man kann von einem professionellen youtube-Kanal sprechen. Nicht nur, weil die Filme professionell gemacht anmuten, sondern auch weil damit offensichtlich geschäftliche Interessen verfolgt werden. Die Autorin bewirbt bei Menschen mit Fibromyalgie offensiv ihr Angebot für Ernährungsberatung, Guaifenesin Kartierung und auch für eine Vitamin-D-Therapie, verpackt als Information einer selbst betroffenen. Am 20. 5. 2020 wurde ein neues „Willkommen“ Video mit einer umfassenden Vorstellung ihrer Angebote hochgeladen.
Unter der Rubrik „Fibromyalgie symptomarm“ möchte die Bloggerin „Therapiemöglichkeiten (vorstellen), die wirklich weiterhelfen“. Ihre Kompetenz aus persönlicher Betroffenheit bekundet sie „Ich war vor einigen Jahren in genau der gleichen Situation und bezeichne meinen Zustand heute als symptomarm, beschwerdearm und gebe mein Wissen und meine Erfahrung an Dich weiter.“ Ein spontanes, empathisches und dadurch glaubwürdiges Statement - oder ist die Formulierung doch spitzfindig gewählt? Das Schlüsselwort ist „ich bezeichne“ alternativ wäre „ich empfinde meinen Zustand als“ möglich gewesen. Niemand kann ernsthaft das individuelle Empfinden oder die persönlich gebräuchliche Bezeichnung für einen Gesundheitszustand infrage stellen. Das sind keine messbaren Kategorien, die kann jeder frei wählen.
Die Bloggerin ergänzt: „Ausserdem bin ich als ganzheitlicher und zertifizierter Coach ansprechbar für Menschen die auf der Suche nach mehr Wohlbefinden und mehr Lebensqualität sind, die neue Wege gehen möchten und dabei Unterstützung suchen.“ Das klingt nach geprüfter Qualifikation, ist es aber nicht. Zertifikate können von jedermann für alles ausgestellt werden, für eine bestandene Prüfung nach mehrjährigem Studium genauso wie für die schlichte Teilnahme an einem Wochenendkurs. Es ist kein „geschützter Begriff“. Das selbe gilt für den Begriff „Coach“. So darf sich jeder nennen, der sich berufen fühlt anderen irgendetwas etwas beizubringen. Dafür ist weder pädagogische noch fachliche Qualifikation erforderlich, noch muss der vermittelte Unterrichtsstoff wahr sein oder anderen Qualitätskriterien genügen.
Am willkürlich angeklickten Beispiel eines Vitamin-D-Videos kann man erkennen, wie die Bloggerin mit ihrer Argumentation und Wortwahl geschickt Aufmerksamkeit, Interesse und Zustimmung der Zuschauer beeinflusst. Zur Einleitung werden mit ernster Mine die schweren Symptome eines Vitamin-D-Mangels aufgezählt, wobei vergessen wird zu erwähnen, dass dafür eine erhebliche, lang anhaltende Unterversorgung bestehen muss. Die Liste entspricht zum Gutteil den Symptomen, die auch Menschen mit Fibromyalgie kennen. Korrekt lenkt die Bloggerin zunächst ein „Eigentlich hat es nichts miteinander zu tun, aber die Symptome können auch von Vitamin-D-(Mangel) kommen.“ Deshalb solle man als Fibro-Patient auf Vitamin-D-Mangel testen (lassen). Doch bei einer umfassenden Diagnose auf Fibromyalgie sollte dieser Test bereits im Rahmen der Ausschlussdiagnose durchgeführt worden sein. Insofern kennt jeder Fibromyalgie-Patient seinen Vitamin-D-Spiegel, nicht zwingend den aktuellen aber den zum Zeitpunkt, als schon Symptome plagten.
Zum Beleg, dass es vielleicht doch einen Zusammenhang zwischen Fibromyalgie und Vitamin-D-Mangel geben könnte wird eine „wissenschaftliche Studie“ erwähnt, aber nicht in recherchierfähiger Form benannt. Die Erinnerung an Studiendesign („Ich weiß gar nicht mehr, was das für ein Umfang war“) und konkretes Ergebnis bleibt aber nebulös. Konkret wird es dann aber bei zwei Fallbeispielen, einer Bekannten und dann auch die Bloggerin selbst. Schwerpunkt der Erzählung ist dann die Erfahrung positiver Effekt durch eine Vitamin-D-Selbsttherapie. Dabei fallen Formulierungen wie „Ich habe mich getraut und bin (gegen den Rat des Arztes mit der Vitamin-D-Konzentration im Blut) immer höher gegangen.“ Im Ohr der Zuschauers klingt: Wer das nicht nachmacht ist zu feige und deshalb selber schuld.
Als die Frage noch einmal aufgeworfen wird „Heilt Vitamin-D die Fibro?“ Heißt es nun: Nein, aber es gibt Anekdoten, die davon berichten. Eventuell sei eine Symptomlinderung zu erwarten. Und nun folgt eine steile Volte indem die Autorität des Robert-Koch-Instituts (RKI) bemüht wird. Demnach sei für 60% der Menschen in Deutschland ein Vitamin-D-Mangel festgestellt worden und insofern erscheint die Warnung berechtigt: „Ich rate Dir dringend, das Thema Vitamin-D anzugehen“ - empfiehlt die Vitamin-D-Beraterin. Schade nur, dass die erwähnte Veröffentlichung des RKI nur 30,2% der Erwachsenen einen klinisch relevanten Vitamin-D-Mangel attestiert (29,7% der Frauen und 30,8% der Männer). Das ist gerade einmal die Hälfte der so alarmierend angegebenen Zahl. Zudem kann jeder Patient davon ausgehen, dass im Rahmen der vielfältigen Ausschlußverfahren vor der Diagnose Fibromyalgie auch auf Vitamin-D-Mangel getestet wurde. Der Test von damals sagt zwar nichts aus über mögliche aktuelle Probleme, doch es ist zumindest sicher, dass die Fibromyalgiesymptome schon zu spüren waren, als der Vitamin-D-Spiegel noch in Ordnung war.
Nachdem von einer bestätigenden Studienlage die Rede war, wird in einer knappen Randbemerkung eine Wirkung „zur Vorbeugung gegen Krebs“ versprochen. Beide Bemerkungen beziehen sich nicht zwingend aufeinander, doch die enge zeitliche und semantische Verknüpfung provoziert beim Zuschauer die Konstruktion eines inhaltlichen Zusammenhangs. Schlägt man nach bei der höchsten Autorität hierzulande, beim Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg, erhält man den Verweis zu einer Studie aus dem Jahr 2018 (also zum Zeitpunkt des Videodrehs am 15.11. 2019 bereits bekannt und noch aktuell), die keinen positiven Effekt gefunden hatte.
Spaßig ist der Verweis auf Menschen, die in Nähe des Äquators leben, als Vitamin-D-Referenz für Mitteleuropäer. Die Bloggerin weiß schon, dass die helle und für UV-Strahlung besser durchlässige Haut der Menschen in stark von Jahreszeiten geprägten Regionen eine bewährte evolutionäre Anpassung an diese Schwankung der Vitamin-D-Versorgung ist?! Die hellhäutigen Menschen leben seit einigen hunderttausend Jahren mit dieser saisonalen Mangelsituation - und sie haben es bislang ganz gut überlebt. Auch die erst seit einigen Jahrhunderten verbreitete Winterkleidung ändert daran nichts, denn die Vitamin-D-Produktion versiegt ab Ende September und setzt erst im April wieder ein. Vom Herbst bis Frühling steht die Sonne nicht hoch genug am Himmel, dass ausreichend UV-Strahlung auf die nackten Hautpartien fällt. Als „zertifizierte Vitamin-D-Beraterin“ könnte man das wissen und den Zuschauern verraten.
Beängstigend ist der Dosierungshinweis „ein Zweijähriger bekommt ja schon 1000 Einheiten am Tag - - das ist für einen Erwachsenen einfach nicht genug.“ „Entweder kann einem der Arzt dabei (wobei?) helfen, es ist vielleicht auch möglich sich selber dabei zu informieren und wenn das mit dem Arzt nicht funktioniert, dann sollte man sich wirklich einen Vitamin-D-Berater suchen, es gibt gut ausgebildete Vitamin-D-Berater.“ Ernsthaft? „Wenn das mit dem Arzt nicht funktioniert“ ist die kompetentere, vertrauenswürdigere, bessere Alternative ein „Vitamin-D-Berater“? Und zweijährige Kinder sollen von diesen Leuten mit Nahrungsergänzungsmitteln auf Zielwerte jenseits der medizinisch-wissenschaftlichen Empfehlung „eingestellt“ werden?
Insofern ist es schon interessant, wenn die Bloggerin beklagt, es gäbe „immer noch“ Ärzte, die „beim Vitamin-D-Thema auf veraltetem Wissen sind“, während sie selbst doch von einer Hausarztpraxis im Sauerland als Vitamin-D-Beraterin zertifiziert sei.
Der Werbespot im Gewand einer Patienteninformation dauert 16 Minuten und 48 Sekunden.