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Alternative Interpretation fehlerhafter Forschung

Ein Facharzt für Labormedizin und Alternativmedizin (engl.: functional medicine) diskutiert mit seinem sehr persönlichen Blick auf die Fakten eine kleine medizinische Studie, die inzwischen wegen methodischer Mängel zurückgezogen wurde.

An dieser Stelle im Blog „Fibromyalgie Aktuell“ konnte man bereits am 6. Juni 2019 den Artikel „Ausrufezeichen?“ mit einer kritischen Würdigung der Veröffentlichung lesen. Der Text wurde bereits um den Hinweis ergänzt, dass die Studie wegen methodischer Mängel und dem Verdacht auf Datenmanipulation zurückgezogen wurden.

In dem youtube-Video bekennt sich der Arzt in seiner persönlichen Vorstellung zur Alternativmedizin: „Ich habe in den USA eine entsprechende Ausbildung gemacht und beschäftige mich seit (…) 25 Jahren mit functional medicine und Komplementärmedizin.“ Dazu ist es hilfreich zu wissen, dass functiononal medicine nicht etwa funktionierende, also wirksame Medizin bedeutet, sondern einem Konglomerat von Heilslehren entspricht, die hierzulande den Verfahren der Heilpraktiker entsprechen und der Alternativmedizin zugerechnet werden.

Nach dieser Einleitung wendet er sich der Studie zu, die „sich erstmals mit dem Zusammenhang von Fibromyalgie und Insulinresistenz“ beschäftigt. „Jetzt gucken wir uns gemeinsam diese Studie einmal an. Und ich werde aus dieser Studie heraus ableiten welche diagnostischen und welcher therapeutischen Schritte sich aus dieser Studie ergeben können; meine persönliche Überlegung. Klassisch schulmedizinisch wird das ja anders gesehen, da arbeitet man ja viel stärker symptomorientiert (…) ohne zu gucken was dahinter liegt, warum (…) diese Beschwerden auftreten.“ „Diese Studie ist interessanterweise wieder zurückgezogen worden (…) weil es eine Klinikstudie war, die Ethikkomission nicht einbezogen wurde, wo es einigen Patienten der Klinik waren, wo die Untersucher während des Studienzeitraums Zugriff auf die Patientendaten hatten. Insofern keine Doppel-Blind-Studie. Mich interessiert das im Grunde genommen überhaupt nicht, für mich ist relevant: Gibt es dort Information, die ich daraus ziehen kann?“

Der wissenschaftliche Grundsatz „ex falso quodlibet, e.f.q.“ (vollständig: ex falso sequitur quodlibet = lateinisch: aus Falschem folgt Beliebiges) scheint dem Arzt unbekannt zu sein. Eine ungültige oder falsche Aussage ist kein Argument, das zur Begründung taugt. In einer zurückgezogenen Studie, insbesondere einer wegen methodischer Mängel und Manipulationsverdacht zurückgezogenen Studie, gibt es keinerlei Information, die man daraus ziehen könnte! (Es sei denn: Wie man es nicht machen sollte.)

Genau deshalb werden wissenschaftliche Thesen als prinzipiell widerlegbare Aussagen formuliert, die sich aber bislang bewährt haben und noch widerlegt werden konnten. Genau deshalb gibt es in der seriösen Wissenschaft die Kontrolle durch Fachkollegen, die in letzten Konsequenz dazu führen, dass zweifelhafte Veröffentlichungen wieder zurückgezogen werden. Dies zu ignorieren ist unakademisch und täuscht Zuschauer, die auf die Reputation des Autors vertrauen.

Zu den untersuchen Fibromyalgiepatienten erklärt der Arzt: Es war „eine kleine Gruppe, das muss man auch sagen.“ Verschwiegen wird jedoch, dass es sich um 23 sehr spezielle Patienten handelte, die in der Klinik gegen ihre myofaszialen Schmerzen behandelt wurden. Das myofasziale Schmerzsyndrom ähnelt der Fibromyalgie, doch im Gegensatz zur Fibromyalgie sind die Schmerzen lokal begrenzt, vorrangig an gut ertastbaren, schmerzempfindlichen Verhärtungen, den sogenannten Triggerpunkten (nicht die Tender-Points der Fibromyalgiediagnose). Bei der Entstehung (Pathogenese) myofaszialen Schmerzen spielen offensichtlich Überlastungen und Störungen im Zusammenspiel zwischen Muskelfasern, Faszienstrukturen und Sehnenstrukturen eine wichtige Rolle, was oft zu einer anhaltenden Kontraktion (Muskelverkürzung) und Muskelverhärtung mit eingeschränkter Bewegungsfähigkeit führt. Schmerzorte sind der Schulter-Nacken-Bereich, seltener der Rücken. Diese Beschwerden können auch bei Menschen mit Fibromyalgie auftreten, sind aber keine Fibromyalgieschmerzen (s. Interview mit Dr. med. Olaf Günther zu myofaszialen Schmerzen).