Ein Werbeslogan ist noch keine Wissenschaft

Dem Einstieg in den Artikel kann man nur zustimmen: „Nach Angaben des National Child Traumatic Stress Network sind die häufigsten traumatischen Stressoren, von denen Kinder betroffen sind, Unfälle, körperliche Traumata, Missbrauch, Vernachlässigung und Gewalt in der Familie und in der Gemeinschaft. Andere Stressoren sind der Tod eines Familienmitglieds, Scheidung, Drogen- oder Alkoholmissbrauch und Naturkatastrophen.“ Einer nahezu vollständigen Aufzählung kann man einfach nicht widersprechen. Genau dieses „Ja“ im Kopf der Leser ist auch gewollt und soll im folgenden Satz nachklingen: „Diese traumatischen Stressoren sorgen im Kindesalter dafür, dass das neurologische System und das Stressreaktionssystem übertrieben auf normale Reize reagieren. Fibromyalgie und Reizdarmsyndrom sind zwei Beispiele für hypervigenische neurologische Reaktionen.“ Das klingt sehr wissenschaftlich und wer wird nach dem vorangegangenen „Ja“ jetzt Kritik über wollen? Doch was ist „hypervigenisch“? Selbst Google kennt den Begriff nicht. „Hypervigilianz“ (auf englisch Hypervigiliance; hypervigilant) ist bekannt als Fachausdruck für besondere Wachsamkeit oder Wachheit und als Symptom bei Zwangsstörungen, bei Störungen des Tag-Nacht-Rhythmus oder bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung bekannt. Aber auch diese, phonetisch naheliegende, Interpretation ergibt keinen Sinn.

Ohnehin handelt es sich bei diesem Text (mal wieder) um eine Roboterübersetzung von amerikanisch-englischen Original. Die hier angeführten Effekte sind schon lange bekannt und werden von erfahrenen Ärzten, bei der Anamnese (umfassendes Diagnosegespräch) auch gezielt erfragt. Menschen mit traumatisierender Erfahrung in Kindheit und Jugend, aber auch als Erwachsene sind unter Fibromyalgiepatienten überproportional häufig. Es gibt jedoch bislang noch keine belastbare, experimentell prüfbare oder gar bestätigte Theorie, wie diese Traumata zu einer Fibromyalgie führen. Auch der hier besprochene Text bietet keine solche Theorie, schleißt aber mit der Behauptung: „Schließlich dient es als gutes Beispiel für den Erfolg einer funktionellen Medizin.“

„Funktionellen Medizin“ wird in den USA ein Konglomerat von Heilslehren genannt, die hierzulande den Verfahren der Heilpraktiker entsprechen und der Alternativmedizin zugerechnet werden. Das wird augenfällig, wenn man die Webseite des Fibro-Fix Summit öffnet. Hier preisen 33 „Experten“ ihre Heiltechniken gegen Fibromyalgie an: Von „No Grain“ (keine Getreideprodukte) und „Lifestyle Medicine“ (Lebensstil-Medizin), „Detoxifikation“ (Detox-Verfahren = Entgiftung) bis hin zu „Integrative Medicine Approach“ (Ganzheitlicher Ansatz); darunter auch „Trauma-Stress-Abuse“ (Verletzung körperlich oder seelisch-Stress-Missbrauch). Überschrieben ist dieses Expertenkollegium mit dem Werbespruch: „Dutzende Millionen Menschen, bei denen Fibromyalgie diagnostiziert wurde, leiden womöglich unter anderen Probleme, die für ihre Symptome verantwortlich sind und werden deshalb falsch therapiert. Gehören Sie dazu?“

Nein, dazu gehören wir mit großer Wahrscheinlichkeit nicht.