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Wipfelglück

| Optimisten 03/2021

Zum Waldbaden braucht es nicht viel. Für das Wellnessvergnügen reichen Bäume und der Wunsch, die Schönheit der Natur wahrzunehmen.

Ich bade im Wald? Ich bade im Wald! Mittendrin. Die Vögel zwitschern, die Äste knacken und die Sonne blitzt durch die Zweige. Ich rieche das Moos, spüre die frische Luft und sauge die ätherischen Öle der Bäume ein, Wohlgefühle breiten sich aus. Ich könnte schreien vor Glück. „Na, schrei doch“, ruft mir Heidi Heigl zu und lacht. „Hier hört dich keiner. Nur die Tiere und Pflanzen.“

Die 52-Jährige ist Naturcoach und begleitet mich beim Waldbaden im Bayerischen Wald. „In der Natur kommen die großartigsten Gedanken und Ideen.“ Heidi Heigl weiß, wovon sie spricht. Schließlich ist sie im Bayerischen Wald aufgewachsen und kennt die besonderen Kräfte der Natur. „Die totale Freiheit im Wald, ohne Begrenzung von Wänden, regt die Kreativität an.“ Und Kreativität ist das, was ich gerade brauche, um in einem neuen Lebensabschnitt durchzustarten. Nach mehr als 15 Jahren habe ich meinen Job im öffentlichen Dienst gekündigt. Diese grundlegende Veränderung in meinem Leben hat mich ein wenig aus der Bahn geworfen.

Heidi Heigl läuft in gleichmäßigen Schritten neben mir her. „In der Natur kommt der Geist zur Ruhe. Der Kopf wird klar, sobald wir in Bewegung sind.“ Aber bloß nicht Hetzen. Beim Waldbaden gibt es kein Ziel, man entschleunigt en passant. Gemeinsam staunen wir über eine Schnecke, die sich gemächlich ihren Weg bahnt. „Wir können von der Natur so viel lernen und auf unser Leben übertragen.“ Man muss nur mit offenen Augen durch den Wald gehen.

Nach drei Stunden Weg zeigt das Bad im Wald erste Wirkungen. Mein Gehirn beginnt anders zu arbeiten. Die Sinnesorgane laufen auf Hochtouren. Ich sehe, fühle, höre anders im Wald. Oder bilde ich es mir nur ein? Der Autor und Wirtschafts-Coach Jörg Romstötter kann meine Erfahrung bestätigen. „Es ist schwer, im Alltag zu bestehen und uns aus dem quirligen Strom herauszunehmen und es zuzulassen, da draußen in der hastenden Welt einfach mal nicht dabei zu sein. Nur ist das die einzige Möglichkeit, seinen eigenen, gesunden, kreativen und kraftvollen Tritt zu finden“, schreibt er in seinem Buch „Das vergessene Wunder“ über das kreative Potenzial der Natur.

Die Japaner haben dieses Wunder schon länger wiederentdeckt. Waldtherapie ist dort seit den 80er-Jahren en vogue und fester Bestandteil des dortigen Gesundheitssystems. An Hochschulen des Landes wird erforscht, welche Lösungen der Wald für stressbedingte Krankheiten parat hat.

Im Wald ist Stress für uns kein Thema und wir machen erstmal eine Pause. Heidi Heigl breitet eine Decke aus. Es gibt Pfefferbrezen, Radieschen, Tomaten und Käse. Eine richtige Brotzeit auf einer Waldlichtung. Es schmeckt herrlich. Ich lehne mich zurück und dann schlafe ich ein. Einfach so. Auf dem Rückweg erklärt mir Heidi Heigl, wie ich die positiven Effekte des Waldbadens mit in meinen Alltag nehmen kann. Wichtig ist es, sich Ruheoasen zu schaffen. Einfach mal eine Tasse Tee trinken, ein paar Seiten in einem guten Buch lesen oder Musik hören. Das kann schon helfen, wenn gerade mal keine Gelegenheit ist, um im Wald zu baden.

Autorin:
Stefanie Opitz
 

 

Interview mit Herrn Prof. Dr. Andreas Michalsen:Herr Prof. Dr. Michalsen ist Chefarzt der Abteilung Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin und Inhaber der Stiftungsprofessur für Naturheilkunde der Charité-Universitätsmedizin Berlin.

 

Was bewirkt Waldbaden?
Das Grün der Bäume, die Geräusche des Waldes, die aromatischen Öle in der Luft und die Bewegung haben eine entspannende Wirkung. Beim Waldbaden sinkt der Blutdruck und der Puls wird langsamer. Gleichzeitig atmet der Mensch tiefer, seine Verdauungsorgane arbeiten besser und die Waldluft regt das Immunsystem an. Im Gehirn werden Zentren aktiviert, die für Glücksgefühle und Stressreduktion zuständig sind.

Was ist der Unterschied zu einem Waldspaziergang?
Der Unterschied ist nicht so groß. Beim Waldbaden kommt es darauf an, sich ganz auf den Wald einzulassen. Also keine Probleme wälzen oder die Leistung auf dem Schrittzähler kontrollieren. Am besten ist es, mindestens zwei- bis dreimal pro Woche für jeweils mindestens eine halbe Stunde in den Wald zu gehen.

Tut es auch der Stadtpark?
Untersuchungen haben gezeigt, dass kleine Sträucher nicht die gleiche Wirkung haben wie Wälder. Aber allein der Anblick von Baumgrün hat eine gute Wirkung. Patienten, die nach einer OP ins Grüne schauen, genesen schneller als andere, die nur eine Steinwand sehen. Das Schauen auf Grün scheint eine archaische Programmierung zu sein, es tut uns gut.