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Vorsicht vor Nahrungsergänzungsmittel

Die Theorie ist banal und erscheint zunächst einmal logisch: Erkrankungen sind Reaktionen des Körpers auf einen Mangel an „Vitalstoffen“ wie Mineralien und Salze, Vitamine und Lipide (Bausteine für Fette), Aminosäuren und Peptide (Bausteine für Eiweiße). Werden diese Defizite ausgeglichen, verschwinden auch die quälenden Symptome und bei günstigem Verlauf auch die Erkrankung. Wie gut, dass eine aufmerksame Industrie für jedes Leiden angepasste Reparaturmischungen mit den fehlenden Vitalstoffen anbietet - die Nahrungsergänzungsmittel.

Zwei Traditionen stützen den Glauben an diese Heilungsversprechen: Ein veraltetes Medizinverständnis und der Verkaufsort Apotheke. Populär und Stand der Wissenschaft war die Vier-Säfte-Lehre aus dem Corpus Hippocraticum (Lehrbuch des Hippocates) von der Antike bis ins 18. Jahrhundert. Als vier Körpersäfte galten

  • Gelbe Galle mit den Primärqualitäten warm und trocken (Temperament Choleriker)
  • Schwarze Galle, kalt und trocken (Melancholiker)
  • Blut, warm und feucht (Sanguiniker = Genussmensch)
  • Schleim, kalt und feucht (Phlegmatiker)

Wobei sich die Konzentration der vier Säfte zueinander entsprechend ihrer Primärqualitäten mit den Jahreszeiten (im Winter dominiert Schleim, im Frühling Blut, im Sommer gelbe Galle und im Herbst schwarze Galle) und dem analogen Lebensalter (Jugend, junger Erwachsener mit erster Elternschaft, ältere Erwachsene mit jugendlichen Nachkommen, Greise) veränderten. Nach den Regeln der Humoralpathologie (griechisch-lateinisch humor: Feuchtigkeit, Körpersaft) verstand man Erkrankungen als Folge einer Störung des Gleichgewichts der vier Körpersäfte. Heilung war nach dieser Lehre durch eine Korrektur der Konzentrationsverhältnisse möglich. Bekannteste Technik war der Aderlass, um überschüssiges Blut aus dem Körper zu entfernen.

Auch über die Ernährung sollte das Gleichgewicht der Säfte gewahrt bleiben. So wurden im mitteleuropäischen Mittelalter Nahrungsmittel als „warm“ oder „kalt“ und „feucht“ oder „trocken“ klassifiziert. Beim Kochen sollten man Zutaten aber auch Würze und Salz so einsetzen, dass sich diese Eigenschaften ausgleichen und ergänzen damit sie die Körpersäfte im Einklang halten. Beispielsweise sollte man die Speisen für jähzornige Choleriker nur wenig würzen, da Gewürze als heiß und trocken galten — wie die „Gelbe Galle“. Nach er Humoralpathologie konnte man dadurch in dieser Risikogruppe einem Herzinfarkt vorbeugen.

Die Schlussfolgerungen aus dieser Irrlehre waren durchaus praxistauglich. Deshalb konnte die Vier-Säfte-Lehre auch so lange als medizinisches Konzept überdauern. Und Ernährungsregeln sind als Teil der Alltagskultur besonders langlebig. Die Überzeugung, dass durch spezielle Nahrung mit besonderen Inhaltsstoffen die Gesundheit verbessert werden könnte (und nicht das Weglassen potentiell schädigender Narhungszusammensetzung wie zuviel Zucker, zuviel Fett) ist nach wie vor weit verbreitet. Auch die Vorstellung von einer „Entschlackung“ als gesundheitsförderlicher Kur zu bestimmter Jahreszeit steht in dieser Tradition.

Die andere Stütze des Marketingerfolgs von Nahrungsergänzungsmitteln ist der seriöse Verkaufsort Apotheke. In der Lehre von der Kundenbeeinflussung nennt man den Effekt Imagetransfer: das positive Image der Apotheke, wo man erfahrungsgemäß wirksame Arzneimittel bekommt, wird unbewusst auf das Randsortiment der Freiwahl (Bereich der Apotheke, der einem SB-Drogeriemarkt ähnelt) übertragen.

Die TV-Dokumentation „Armee der Heilsbringer – das dubiose Geschäft mit Nahrungsergänzungsmitteln“ beleuchtet den riesigen Markt der teuren Präparate mit vollmundigen Heilsversprechen aber ohne naturwissenschaftlich-medizinischen Nachweis einer Wirkung. Inzwischen soll jeder dritte Deutsche solche Mittel einnehmen, oft aus Sorge ansonsten „Nicht alles Mögliche und Notwendige“ für die Gesundheit zu tun oder die Selbstoptimierung (Konzentrationsfähigkeit, Arbeitsbelastung, Sportleistung, Sexuelle Aktivität) zu vernachlässigen.

Bild-Online warnt: Die leichtesten Opfer sind Schwerkranke! Die ARD-Doku berichtet über zwei Fälle, in denen Patienten oder Angehörige über 3000 Euro für Nahrungsergänzungsmittel ausgegeben haben. Eine Erkrankte: „Wenn Sie starke Schmerzen haben, nehmen Sie jeden Strohhalm.“ und zitiert Prof. Dr. Jutta Hübner von der Uniklinik Jena: „Dieses Spiel mit den Patienten ist reine Geschäftsmacherei. Man kann das sogar als Scharlatanerie bezeichnen. Die Mittel haben keinen Vorteil bei der Krebserkrankung. Sie können sogar schaden!“

Pikante Randnotiz: Der private TV-Sender VOX (RTL-Gruppe) engagierte für ihre populäre Sendung „Die Höhle des Löwen“ (DHDL, rund 2,8 Millionen Zuschauer pro Sendung), in der neue Geschäftsideen als Investitionsprojekte vorgestellt werden, den Pharma-Unternehmer Nils Glagau. Dessen Unternehmen Orthomol propagiert die „orthomolokulare Medizin“ und vertreibt ausschließlich - Nahrungsergänzungsmittel!

 

 

Quellen:

ARD Mediathek: Armee der Heilsbringer. Dokumentation „Exclusiv im Ersten“, gesendet am 9.9. 2019.

Bild-Online: Die miesen Tricks mit angeblichen Zauber-Pillen. Online veröffentlicht am 10.09.2019