NDR 20.06.2022 Die Ernährungs-Docs: Fibromyalgie - Was sind Symptome und ist Heilung möglich?

Der Einstieg in die Sendung mit einer empathischen Beschreibung der Erkrankung aus Patientensicht ist gut gelungen. Nur die Beschreibung von Fibromyalgie-Symptomen als „zieht der Schmerz durch den Körper wie ein Messerstich“ (Minute 2:28) und der Verlust der Muskelspannung (suggeriert durch das Halt suchende Festhalten am Ehemann) entspricht nicht den typischen Beschwerden. Doch dann häufen sich medizinisch fragwürdige Aussagen und irreführende Empfehlungen.

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So mancher Mensch mit Fibromyalgie wird mitleidig Schmerz empfunden haben, angesichts der recht groben Physiotherapie (3:15), die der Patientin 2 bis 3mal pro Woche zugemutet wurde. Sicherlich gibt es Gute Tage mit geringerer Drucksensibilität und Schmerzneigung, dann ist eine so intensiver Körperbehandlung (im Nachhinein) wohltuend. Aber der Normalfall ist das nicht. Und dann ergibt sich noch eine zweite Frage: Wer bezahlt einem Menschen mit Fibromyalgie die so häufig praktizierten Physiotherapie-Anwendungen?

Kurz darauf (3:46) staunt man über die den Kommentar „Medikamente, starke Schmerzmittel, hat sie nicht vertragen“. Gegen den Dauerschmerz bei Fibromyalgie sind klassische Analgetika (Schmerzmedikamente) wie NSAR (Nichtsteroidale Antirheumatika) oder gar Optiate wirkungslos. Sie sind daher auch keine sinnvolle Therapie bei Fibromyalgie. Die Ärzte der Sendung, die medizinischen Doctores (Docs) hätten mal nachfragen können, wie es zu dieser Medikamentenverordnung kommen konnte. Oder wurden die „starken Schmerzmittel“ womöglich gegen andere Erkrankungen oder Folgebeschwerden der Patientin verordnet?

Dann wird die Ernährung der Patientin analysiert und behauptet: "Ein Baustein der Behandlung der Fibromyalgie sind unter anderem Fettsäuren, ungesättigte Fettsäuren." Dabei wurde im Vordergrund eine Tafel mit der Aufschrift „Omega 3“ platziert. Damit Zuschauer multimedial lernen können. Leider wird nicht erwähnt, warum das so sein soll. Es bleibt in dieser Sendung eine unbelegte, nicht prüfbare Behauptung. Das ist um so bedauerlicher, da sich in der aktuellen Fibromyalgie-S3-Leitlinie kein Hinweis dazu findet.

Immerhin wird das vorgebliche Problem der Patientin spezifiziert: "Sie haben zuviel Omega-6-Fettsäuren im Körper und die sind mitverantwortlich für Entzündungsprozesse und somit auch für die Schmerzen bei Ihrer Fibromyalgie (4:33)." Diese Behauptung setzt voraus, dass Fibromyalgie etwas mit generalisierten Entzündungsprozessen im Körper zu tun habe - hier lugt das seit Jahrzehnten überholte Konzept des „Weichteilrheumas“ um die Ecke. Das ist ein Irrtum, Fibromyalgie hat nichts mit Rheuma zu tun und ist auch nicht mit generalisierten Entzündungsprozessen assoziiert. Nach dem seit dem 1. Januar 2022 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Kraft gesetzten Diagnoseschlüssel ICD-11 zählt Fibromyalgie als chronisches primäres Schmerzsyndrom zu den neurologischen Erkrankungen.

Der Tipp für die erfolgversprechende Diät bemüht einen prähistorischen Vergleich: "Die richtige Ernährungsweise für Sie wäre die unserer Ahnen und von Naturvölkern, nämlich eine pflanzenbasierte Kost ohne verarbeitete Lebensmittel und ohne Zucker." Dazu drapierte man kleine Schleich-Figuren; einen Gorilla und einen Neandertaler. Das ist in mehreren Dimensionen skurril. Die gemeinsame Stammeslinie mit dem heute lebenden Blätterfresser Gorilla endet vor rund 8 Millionen Jahren. Der hier in Mitteleuropa auch als „Eiszeitmensch“ bekannte Neandertaler war ein hochspezialisierter Jäger; das damalige Klima hierzulande eignete sich nicht für vegetarische Lebensweise. Das gilt auch für „Naturvölker“, die heutzutage noch unter vergleichbaren Bedingungen leben (müssen): Eskimos oder Inuit (Kältelandschaft, Arktis), Yanomami (Regenwald, Südamerika) oder Massai (Trockensavanne, Afrika). Glücklicherweise stammt die in Europa ansässige Menschenpopulation von zugewanderten Hirten und Ackerbauern ab. Neandertaler sind genetisch und kulturell nur noch zu einem sehr geringen Teil „unsere Ahnen“. Typisch menschlich ist dagegen der Verzehr von „verarbeiteten“ Lebensmitteln, insbesondere von gebratener oder durch andere Formen des Erhitzens aufgeschlossene Nahrung. Das Gebiss eines Menschen ist gar nicht dazu geeignet, große Mengen von Rohkost oder gar Fleisch zu verzehren. Die breiten Kauflächen mit flachem Relief sprechen für die Evolution eines Früchtefressers, der damit weiche (und zuckerhaltige) Nahrung zerdrückt. Alternativ kann mit so einem Gebiss auch gegartes Gemüse oder mürbe gebratenes Fleisch verzehrt werden - seit derJungsteinzeit auch Getreidebrei.

Apropos Nahrungszusammenstellung; Menschen besitzen eine sehr hohe Ernährungskompetenz. Sie wissen was ihnen gut tut, was der Körper jetzt braucht (1). Voraussetzung dafür ist, dass man gelernt hat, welche Nahrungsmittel was für Inhaltsstoffe mitbringen. Wobei dieses „lernen“ intuitiv geschieht. Niemand muss Inhaltstabellen auswendig aufsagen können. Je nachdem was der Körper gerade an Nahrungsmitteln benötigt, darauf entwickelt man Appetit. Ansonsten meidet man, wovon einem das letzte mal schlecht geworden ist. Einzige Ausnahmen: Zucker und Alkohol. Beide Formen dieser besonderen Toleranz sind typisch für die Ernährungsweise auf Grundlage vollreifer Früchte.

In der Sendung wird der Patientin aber zunächst eine ganz andere Kost zugemutet: Zum Einstieg in Ihr neues Ernährungsleben empfehle ich Ihnen zu fasten; sechs Tage lang Schleimfasten. Die Schleimkur soll „entlasten“ und gegen Fibromyalgieschmerzen wirken (6:38). Aber wie? Welcher physiologische Effekt der gewollten Mangelernährung soll wie auf die neurologisch generierten Schmerzen wirken? Die so selbstbewusst formulierte Behauptung wird nicht begründet. Auch die zuvor zum Ziel der Ernährungsumstellung erklärte Reduktion von Entzündungen - die zwar mit Fibromyalgie nichts zu tun hat, aber ganz allgemein das Wohlbefinden verbessern könnte - wird nicht als Erklärung bemüht. Der Grund dafür könnte sein, dass eine besondere Ernährung noch nicht einmal bei rheumatischen Erkrankungen mit generalisierter Entzündung im Körper Linderung bewirkt (2).

Erstaunlich sind auch die Folgen der Schleimkur, die von der Patientin selbst beschrieben werden (10:12) „Ich habe alles entgiftet, was man entgiften kann. Ich war klatschnass geschwitzt über Schüttelfrost, über Gliederschmerzen, über extremes Brennen im Körper. So langsam geht es besser. Ich trinke so viel am Tag wie sonst in der ganzen Woche nicht.“ Das sind jedoch eher Symptome einer Vergiftung als einer - wie auch immer bewerkstelligten - Entgiftung.

Der erste Einkauf für die neue Ernährung nach der Fastenkur wird präsentiert (11:03) ohne die Zusammenstellung zu begründen. Darunter auch mexikanischer Agavendicksaft (Sirup), der mit 68% Zucker süßer ist als heimischer Honig.

Hilfreich werden die Tipps für Menschen mit Fibromyalgie, wenn sich die Ernährungs-Docs nicht mehr mit der Ernährung der Patientin beschäftigen. „Wissenschaftlich gesehen zeigt sich immer mehr, dass moderater Ausdauersport ganz wichtig für die Fibromyalgie ist.“ (Rücksprung auf 8:03). Das ist korrekt und den meisten Menschen mit Fibromyalgie bestens vertraut. Die Gründe dafür sind vielfältig, von der Linderung aktuter Angst und Stresssymptomen (3) bis hin zu Reduktion von Entzündungsreaktionen im Körper durch Freisetzung von cannabisähnliche Substanzen (4).

Begleitet wird die Ernährungsumstellung durch ein moderates Sportprogramm: Die Fastenkur und das neue Essen sorgen schon jetzt dafür, dass sie sich besser bewegen kann. Regelmäßig geht sie mit einer Freundin walken (11:30). Womöglich sind dadurch die in der Abschlußbesprechung aufgesagten Erfolge der Ernährungs-Doc begründet: „Keine Muskelschmerzen mehr - Das ist wirklich ein Traum“ (11:58). Ja genau, das ist Träumerei. Denn wie die hier empfohlene Ernährungsweise auf die neurologische Erkrankung Fibromyalgie wirken soll, wird nicht erklärt. Es wird mit Messwerten argumentiert, die für die Erkrankung und Symptombelastung der Menschen keine Relevanz haben. „Eine erneute Messung der Fettsäuren im Körper zeigt Omega 6 zu Omega 3 deutlich verbessert - das hat sicherlich auch den Durchbruch gebracht.“ (13:27). Sicherlich? Welcher für Fibromyalgieschmerz relevante pyhsiologische Effekt wird dadurch so verändert, dass sich die Moderatorin so sicher sein kann? Und warum wird er verschwiegen?

Viel eher plausibel ist ein ganz anderer positiver Effekt von Reduktionsdiät und Sportprogramm, der bekanntermaßen eine Verbesserung des Wohlbefindens bewirkt: „Und Sie haben auch abgenommen“ „Ja, 17kg!“ (13:40). Die gewonnene Beweglichkeit und gesteigerte Belastbarkeit, das verbesserte Körpergefühl, ein erstarktes Selbstwertgefühl das alles stärkt die Widerstandsfähigkeit gegen Stress - und lindert damit die Schmerzbelastung bei Menschen mit Fibromyalgie. Zudem verbessert Freizeit in der Natur Wohlbefinden, Gesundheit und macht Appetit auf gesunde Ernährung (5). Ohnehin ist Ausdauersport eine sehr wirksame Unterstützung für eine Reduktionsdiät; einerseits hilft die Muskelaktivität die Energiebilanz zwischen aufgenommenen und verbrauchten Kalorien zu verschieben, andererseits ist regelmäßiger Sport eine effektive Appetitbremse (6) insbesondere für fettreiche Kost (7). Und wer sich nicht zum Ausdauersport bei Wind uns Wetter in ungewohnter (oder unvorteilhaft wirkender) Kleidung in die Öffentlichkeit begeben möchte, kann die Frischluftaktivität auch daheim kompensieren. Intensive Hausarbeit garantiert nicht nur ein angenehmes Ambiente, sondern kann auch als Sportersatz gelten. Allerdings funktioniert das nur bei älteren Menschen, die Jugend muss zusätzlich joggen gehen (8).

Die Tipps der Ernährungs-Docs können beim Einstieg in ein Leben mit besserem Wohlbefinden helfen. Mit Fibromyalgie haben sie aber nichts zu tun. So kann ein strenger Diätplan Betroffene dazu zwingen, endlich etwas für sich selbst zu tun - sich selbst zu genehmigen, die eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund zu stellen. Das gilt auch für ein Sportprogramm. Wird es als nett und nützlich angesehen, fällt die Übungsstunde oft aus. Wird es als zwingend notwendiger Bestandteil der neunen Lebensweise definiert, bleibt man leichter dabei. Hier ist der positive stressreduzierende Effekt unbestritten. Eine Schleimkur wird aber erst dann sinnvoll, wenn man den physiologischen Effekt erklären kann.

(1) Brunstrom, J.M.; Schatzker, M. (2022): Micronutrients and food choice: A case of ‘nutritional wisdom’ in humans? Appetite 174: 106055, online veröffentlicht 18.4. 2022. DOI: 10.1016/j.appet.2022.106055

(2) Gwinnut, J.M. et al. (2022): Effects of diet on the outcomes of rheumatic and musculoskeletal diseases (RMDs): systematic review and meta-analyses informing the 2021 EULAR recommendations for lifestyle improvements in people with RMDs. Reumatic an Musculare Desieses 8 (2): e002167. DOI: 10.1136/rmdopen-2021-002167

(3) Henriksson, M. et al. (2022): Effects of exercise on symptoms of anxiety in primary care patients: A randomized controlled trial. Journal of Affective Disorders 297 (15): 26 - 34. DOI: 10.1016/j.jad.2021.10.006

(4) Vijay, A. et al. (2021): The anti-inflammatory effect of bacterial short chain fatty acids is partially mediated by endocannabinoids. Gut Microbes 13 (1), online veröffentlicht 17.11. 2021. DOI: 10.1080/19490976.2021.1997559.

(5) Milliron, B.-J. et al. (2022): Nature Relatedness Is Positively Associated With Dietary Diversity and Fruit and Vegetable Intake in an Urban Population. American Journal of Health Promotion, online veröffentlicht 5.4. 2022. DOI: 10.1177/08901171221086941

(6) Li, V.L. et al. (2022): An exercise-inducible metabolite that suppresses feeding and obesity. Nature 606: 785–790. DOI: 10.1038/s41586-022-04828-5

(7) Kirkpatrick, G.E. et al. (2022): Acute high-intensity interval exercise attenuates incubation of craving for foods high in fat. Obesty 30 (5). 994 - 998. DOI. 10.1002/oby.23418

(8) Lee, S.Y. et al. (2022): Cross-sectional associations of housework with cognitive, physical and sensorimotor functions in younger and older community-dwelling adults: the Yishun Study. British Medical Journal (BMJ) Open 11 (11): e052557. DOI: 10.1136/bmjopen-2021-052557