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Antidepressiva zur Schmerzlinderung mit geringer Evidenz

Der Einsatz von Antidepressiva hat sich in den Mitgliedsstaaten der OECD von 2005 bis 2015 verdoppelt. Großen Anteil daran hat der nicht bestimmungsgemäße Gebrauch (off-label-use) dieser Medikamente bei Schmerzerkrankungen wie beispielsweise Fibro­myalgie. Die Daten zeigen, dass einzelne Patientengruppen sogar häufiger Antidepressiva gegen chronische Schmerzen bekommen als gegen Depressionen - oftmals ohne den erhofften Nutzen.

Das Team um Prof. Dr. Giovanni Ferreira von der Sydney School of Public Health an der University of Sydney (Sydney, Australien) analysierte 26 systematische Reviewveröffentlichungen (Metastudien) – mit 156 Einzelstudien und mehr als 25.000 Teil­nehmenden – zur Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit von Antidepressiva bei unterschiedlichen Formen von chronischen Schmerzen. Jede Erkrankung wurde von einem oder zwei Reviews abgedeckt, mit Ausnahme von Fibromyalgie, dafür konnten fünf Reviews mit unterschiedlichen Medikamentenklassen ausgewertet werden.

 

In keinem der Reviews wurde über eine Evidenz mit hoher Vertrauenswürdigkeit zur Wirkung von Antidepressiva bei Schmerzen berichtet. So konnte aus der Medikamentenklasse der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) bei Fibromyalgie keine Wirksamkeit festgestellt werden, die den Effekt von Placebo übertraf. Lediglich moderate positive Effekte konnten bei Menschen mit Fibromyalgie oder mit neuropathischen Schmerzen für die Wirkstoffklasse der Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Inhibitotren (SNRI, beispielsweise Duloxetin) festgestellt werden. Trizyklische Antidepressiva (TCA; nicht selektive Wiederaufnahmehemmer für Serotonin, Noradrenalin und Dopamin; beispielsweise Amitriptylin) werden zwar am häufigsten gegen Fibromyalgie-Schmerz verordnet, scheinen in den meisten Fällen aber nur wenig oder gar nicht zu wirken. Dagegen gilt für eine Therapie mit TCAs bei medizinisch ähnlichen Erkrankungen oder Symptomen wie Reizdarmsyndrom und neuropathischen Schmerzen eine Wirksamkeit mit vertrauenswürdiger Evidenz.

 

Die Autoren der Übersichtsstudie schränken die Aussagekraft der ohnehin schwachen Effekte für weitere Symptome ein, die oftmals mit einer chronischen Schmerzerkankung verbunden sind, beispielsweise Fatigue oder Schlafstörungen. Zudem sie bei einer optimistisch positiven Interpretation Vorsicht angebracht, da fast die Hälfte (45 %) der Einzelstudien in den systematischen Reviews Verbindungen zur Pharmaindustrie aufgewiesen hätten.In ihrem Fazit formulieren die Autoren daher sehr zurückhaltend, dass „manche Antidepressiva bei einigen Schmerzerkrankungen wirksam waren. Aber die Wirksamkeit scheint von der Erkrankung und der Antidepressivaklasse abzuhängen. Dies deutet darauf hin, dass ein nuancierter Ansatz erforderlich ist, wenn Antidepressiva gegen Schmerzen verordnet werden.“ Nicht gerechtfertigt sei daher die derzeit in vielen S3-Leitlinien von Schmerzerkrankungen, denn „Das Empfehlen einer Liste von Antidepressiva ohne sorgfältige Prüfung der Evidenz (…) kann Ärzte und Patienten zu der Annahme verleiten, dass alle Antidepressiva bei Schmerzzuständen die gleiche Wirksamkeit haben. Wir haben gezeigt, dass dem nicht so ist.“ Es sei vielmehr anstelle der Tabletteneinnahme eine aktive Rolle der Patienten empfehlenswert „Bei einigen Schmerzzuständen können auch Bewegung, Physiotherapie und Änderungen des Lebensstils helfen. Sprechen Sie mit Ihrem Arzt, um mehr darüber zu erfahren, welche Alternativen für Sie geeignet sein könnten.“

 

Zudem provoziert die zumeist dauerhafte Einnahme von Antidepressiva auch unerwünschte Wirkungen (Nebenwirkungen). Rund die Hälfte der Menschen die „moderne“ SSRIs einnehmen, klagen über einen nachhaltigen Verlust an Lebensfreude. Aktivitäten und Erlebnisse, die vormals Spaß machten, werden durch emotionale Abstumpfung („blunting“) neutralisiert. Das kann sich auch als Störungen des Sexuallebens auswirken. Eine britisch/dänisches Studie untersuchte diesen Effekt nun an 66 gesunden Probanden - damit eine depressive Episode das Ergebnis nicht verfälscht. Eine Gruppe nahm über 21 Tage ein Antideperssivum ein, die andere Hälfte bekam Placebo. Das Ergebnis war eindeutig: Der Wirkstoff hatte keinen Einfluss auf die Intelligenz, vernünftiges Handeln, kognitive Flexibilität und Gedächtnis der Menschen, beeinflusst aber deren Emotionen infolge des eigenen Handelns und schwächte deren Empfinden von Lebensfreude.

 

Der Kommentar im Editorial zur ersten Studie fasst die Ergebnisse meinungsstark zusammen: „Für die meisten Erwachsenen mit chronischen Schmerzen bedeuten diese Ergebnisse, dass eine Therapie mit Antidepressiva enttäuschend verlaufen wird.“ Dennoch werden Ärzte weiterhin trotz schlechter Evidenz Arzneimittel verschreiben, auch wenn nur wenige Patienten darauf ansprechen. Dabei spielt die Erwartung der Patienten eine wichtige Rolle - die Hoffnung auf Linderung durch ein Medikament. Mehr Erfolg ist durch potenziell weniger schädliche Maßnahmen wie etwa Sport, Mobilitätsunterstützung und Prävention von sozi­aler Isolation zu erwarten. Diese könnten es Menschen ermöglichten, auch mit einer Schmerzerkrankung gut zu leben. Für Menschen mit Schmerzerkrankungen sei eine mitfühlende und beständige Arzt-Patienten-Beziehung der Grundpfeiler einer erfolgreichen medizinischen Versorgung.

 

 

 

Ferreira, G.E. et al. (2023): Efficacy, safety, and tolerability of antidepressants for pain in adults: overview of systematic reviews. British Medical Journal 380: e072415. DOI: 10.1136/bmj-2022-072415

 

Stannard, C.; Wilkinson, C. (2023): Rethinking use of medicines for chronic pain. British Medical Journal 380: 170. DOI: 10.1136/bmj.p170

 

Langley, C. et al. (2023): Chronic escitalopram in healthy volunteers has specific effects on reinforcement sensitivity: a double-blind, placebo-controlled semi-randomised study. Neuropsychopharmacology 48: 664 – 670. DOI: 10.1038/s41386-022-01523-x